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MEINE SEELE
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Schmerz! O blutige Flecken!
O weinende
Fahnen des Elends!
Meine Seele verlor ihre Reinheit.
Meine Seele vergaß ihren Traum.
Meine Seele verlor. Meine Seele vergaß.
Meine Seele ist keine mondleuchtende Nacht.
Meine Seele ist eine schwer, bitterlich regnende Nacht.
Meine Seele ist eine finstere, dumpfe Gasse
mit Türen, an denen käufliche Weiber winken.
Meine Seele ist selbst ein käufliches Weib geworden.
Meine Seele ist eine verlorene Vorstadt
mit verdorrten traurigen Kindern in den Straßen.
Meine Seele ist das dumpfe Stöhnen eines hungrigen Volkes.
Meine Seele ist ein Haufen von zerfetzten Leichen,
mitten in einer Blutlache,
drin die Granate platzt.
Meine Seele ist ein blutverrosteter Drahtverhau,
daran ein toter Soldat hängt.
Meine Seele ist nicht meine Seele.
Meine Seele ist den blutigen Händen
eines grausamen Herrschers ausgeliefert;
der hat sie zerrissen,
hat sie zerfetzt.
Meine Seele sind die weinenden Fetzen einer Fahne des
Elends.
O, weine, weine, weine!
Weine aus!
Weine auf!
Weine wild!
Beweine! Weine!
O, Wut! O zerknickende Ketten! O brausende Wogen des
Pogroms!
Meine Seele verlor ihre Sanftmut.
Meine Seele vergaß ihren Tempel.
Meine Seele verlor. Meine Seele vergaß.
Meine Seele ist eine rasende Mänade,
Geschwür und Aussatz mit den Fingern reißend,
wegwerfend.
Meine Seele ist ein unerwarteter Sturm
plötzlich in einem Urwald und Lügen.
Meine Seele ist bunt, meine Seele ist Pogrom.
Meine Seele ist ein Fegefeuer.
Meine Seele ist eine brennende Fackel,
geschleudert in die Herzen.
Meine Seele ist der wütende Ansturm
einer verzweifelten Menge, die reißt, die brennt,
die bricht!
O, brich, brich, brich!
Brich aus!
Brich auf!
Brich an!
Zerbrich! Brich! Brich! Brich!
O, Licht! O helles Lied der Flamme!
O Aufschwung des Geistes!
Meine Seele verlor ihren Missmut!
Meine Seele ist voll von feierlichen Fackelzügen.
Meine Seele ist voll von leuchtenden, brandtragenden
Armen!
Meine Seele ist eine hohe Lohe,
drin die Augen Tolstojs mit durchstechendem Blick.
Meine Seele ist der helle Morgenruf des Hahnes.
Meine Seele ist ein leuchtender Aufruf. -
O, leuchte, leuchte, leuchte!
Leuchte auf!
Leuchte laut!
Erleuchte! Leuchte!
1919
© Geo Milev
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© E-magazine LiterNet, 28.05.2020, № 5 (246)
Other publications:
Die literarische Avantgarde in Südosteuropa und ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung. Hrsg. R. Lauer. München: Südeuropa Gesellschaft. 2001, 245-248.
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