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GRIMMELSHAUSENS SIMPLICISSIMUS-ROMAN IM SPANNUNGSFELD VON AGGREGATION UND INTEGRATIONLilia Burova
1. Einleitung Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, warum die Beschäftigung mit dem Phänomenbereich "explizite Junktion" am Beispiel des Simplicissimus-Romans (1668) von Hans Jacob von Grimmelshausen und seiner Übersetzung ins Gegenwartsdeutsche durch Reinhard Kaiser (2009) sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang werden zunächst die Begriffe Aggregation und Integration erörtert (Abschnitt 2), bevor dann auf die Junktionstheorie von Wolfgang Raible und das darauf aufbauende Junktionsmodell von Vilmos Ágel eingegangen wird (Abschnitt 3). Danach werden einige Gründe dargestellt, die den Vergleich des Simplicissimus-Romans mit seiner Übersetzung hinsichtlich der darin verwendeten Junktoren plausibel machen (Abschnitt 4). Ein kurzes Fazit beschließt den Artikel.
2. Die Begriffe Aggregation und Integration Wenn Vilmos Ágel in seinem Beitrag "Was ist »grammatische Aufklärung« in einer Schriftkultur? Die Parameter ›Aggregation‹ und ›Integration‹" (2007) einen Beleg aus Grimmelshausens Simplicissimus zitiert, exemplifiziert er wieder seine These von der sprachhistorischen Adäquatheit - "Viabilitätsprinzip" genannt -, die er 2001 am Beispiel der Serialisierung im Verbalkomplex begründet hat (vgl. Ágel 2001). Das Viabilitätsprinzip, das nach Ágel auf drei Ebenen - Empirie, Methode und Theorie - erforscht werden kann, besagt im Grunde Folgendes: Viabilität ist die Angemessenheit jeweils (1) der Daten, (2) "der Herangehensweise an die zu beschreibenden (und zu erklärenden) Daten" oder (3) "der Interpretation der Daten" vor dem Hintergrund sprachgeschichtlicher Abläufe (Ágel 2001: 319-320). Während jedoch an der Serialisierung im Verbalkomplex die nicht viable Beschreibung des Phänomens in der Engel’schen Grammatik des Gegenwartsdeutschen (vgl. Engel 1988) aufgedeckt wurde und somit als ein Plädoyer für die Verknüpfung von sprachgeschichtlicher und Gegenwartsgrammatik verstanden werden kann, veranschaulicht das Beispiel aus dem Simplicissimus-Roman die nicht viable Erklärung der Frühneuhochdeutschen Grammatik (1993), und zeugt von dem "synchronizistischen Erbe"1 der Grammatikforschung:
Aus der Perspektive des Gegenwartsdeutschen ist dieser Satz nicht (mehr) korrekt, da heute nach dem Komparativ kein Negationswort im Vergleichssatz stehen kann. Robert Peter Eberts Klassifizierung dieses Belegs (vgl. Ebert 1993) im Kapitel "»Scheinbare Vertauschung positiver und negativer Ausdrucksweise« als »eine für das heutige Sprachgefühl pleonastische Negation«" (Ágel 2007: 41) suggeriert, dass Beleg (1) keine Ausnahme, sondern zumindest ein Normalfall neben anderen sei, was sich auch problemlos durch das Auffinden weiterer Beispiele aus dem Simplicissimus-Roman bestätigen ließe. Das heißt dann, dass diese Erscheinung im 17. Jahrhundert noch produktiv ist und man ihrer theoretischen Beschreibung nicht gerecht wird, wenn man aus heutiger Perspektive vom Abbau der pleonastischen Negation ausgeht. Statt dessen gebraucht Ágel den Begriff Aggregation, der sich für die adäquate Beschreibung dieses wie auch anderer Fälle eignet, die nur auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Unter Heranziehung weiterer Beispieltypen versucht Ágel zu begründen, dass die Aggregation ein übergreifendes Prinzip darstellt (vgl. Ágel 2007: 44), mit dessen Hilfe sich die Organisationsstruktur der jeweiligen Beispiele als "aspektivisch" beschreiben lässt. D. h. Belege wie (1), die eine aggregative Strukturierung aufweisen, teilen die gleiche Eigenheit: Der syntaktischen Subordination entspricht keine semantische, was Ágel als "Statusheterologie zwischen Syntax und Semantik" bezeichnet (Ágel 2007: 45). Und der entlehnte kulturhistorische Begriff aspektivisch bedeutet, dass "die Syntax und die Semantik [...] hier von verschiedenen Perspektiven aus organisiert [sind]" (ebd.). An anderer Stelle analysiert Ágel die Organisationsweise des Belegs (1), die schematisch wie folgt dargestellt wird (2003: 36): [{darinnen fande ich mehr Thorheiten}] [als {mir bißhero noch nie vor Augen kommen}] Die geschweiften Klammern umfassen die beiden semantisch selbständigen Inhalte, welche durch als aggregativ verbunden sind, während die eckigen Klammern die beiden syntaktisch unselbstständigen Sätze signalisieren. Ágel kommentiert die besondere Organisationsstruktur von Beleg (1) folgenderweise (ebd.):
In Anlehnung an Czicza/Hennig (2013: 2) lässt sich das Gesagte auch anders veranschaulichen. Dabei kommt die für die Aggregation typische aspektivische Darstellungsweise klarer zum Ausdruck:
Demgegenüber lässt sich die Struktur eines modernen Satzes folgenderweise darstellen:
Der Vergleich der beiden Sätze, Beleg (1) und Beleg (2), macht deutlich, dass sich historisch gesehen die integrativen Organisationsformen von Negation entwickelt und dabei die aggregativen ersetzt haben. Daher handelt es hier nicht "um die Eliminierung pleonastischer Negationswörter" (ebd.: 46), sondern um "die Herausbildung eines neuen Typs von grammatischer Organisation" (ebd.: 47). Die Begriffe Aggregation und ihr Gegenbegriff - die Integration - wurden in der Linguistik von Wilhelm Köller in Anlehnung an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky popularisiert, wobei Köller (1993: 21 zit. nach Ágel 2007: 45 und Czicza/Hennig 2013: 2) die aspektivische Darstellungsweise als den "Aggregatraum" der zentralperspektivischen Darstellungsweise als dem "Systemraum" gegenüberstellt. Für die aspektivischen Darstellungen, wie sie z. B. in den altägyptischen oder mittelalterlichen Bildern zu sehen sind, sei typisch, dass Im Gegensatz dazu sei für die zentralperspektivische Darstellungsweise bzw. für den Systemraum kennzeichnend, "daß nun die dargestellten Dinge zu einer Funktion des Raumes würden bzw. zu einer Funktion des Sehepunktes, den das wahrnehmende Subjekt eingenommen habe" (Köller 1993: 24 zit. nach Czicza/Hennig 2013: 2). Unabhängig davon, ob man nun das Begriffspaar "Aggregatraum/Systemraum" (Köller 1993), "Aggregativität/Integrativität" (Raible 1992; Ágel 2003 oder 2007) oder "Kontextgrammatik/Symbolgrammatik" (Eisenberg 1995) benutzt, sind ihnen das skalare Verständnis des Prinzips und die aspektivische bzw. zentralperspektivische Organisationsweise gemeinsam (vgl. Czicza/Hennig 2013: 5). Diese Gemeinsamkeiten machen es möglich, eine Reihe von Beispieltypen zu finden, auf die der Aggregation-Integration-Gedanke applizierbar ist. Dániel Czicza und Mathilde Hennig bieten in ihrem Artikel "Aggregation, Integration und Sprachwandel" (2013), mit dem sie "das ehrgeizige Ziel [verfolgen], den Parameter ‚Aggregation-Integration‘ als einen Sprachwandelparameter zu etablieren" (Czicza/Hennig 2013: 1), einen Überblick über verschiedene, in der Forschungsliteratur bereits behandelte oder in ihrem Beitrag neu besprochene Beispieltypen wie aggregative Koordination (ebd.: 5), Serialisierung im Verbalkomplex (ebd.: 6-7), korrelative Satzverknüpfung mit es (ebd.: 13-23) etc.
3. Zu der Junktionstheorie von Raible und dem Junktionsmodell von Ágel Von zentraler Bedeutung für das im Folgenden vorzustellende Junktionsmodell von Vilmos Ágel ist Wolfgang Raibles Junktionstheorie mit der ihr zugrundliegenden Aggregations-/Integrations-Skala, auf die demnächst einzugehen ist. Beim Vergleich der von Raible angeführten Beispielsätze
sieht man sich mit dem Problem konfrontiert, dass es sich im vierten Beispiel mit wegen weder um Sub- noch um Koordination handelt, da nur noch ein einziger Satz übrig geblieben ist. Die Begriffe der traditionellen Grammatik versagen offenbar bei dem Versuch, die vier Kausalitätsfälle einheitlich, d. h. aus einer gemeinsamen Perspektive, zu betrachten. Deshalb schlägt Wolfgang Raible statt Koordination und Subordination die neutraleren Begriffe Aggregation und Integration2 vor, die als die Pole einer Skala anzusehen sind, zwischen denen eine große Zahl von sprachlichen Varianten möglich sind. Jede Sprache verfügt über diese Skala mit ihren zwei Polen Aggregation und Integration, die Wolfgang Raible (1992: 27) Junktion3 nannte: Raible betrachtet Beispiel (1) als die aggregativste Technik (= Ebene I) der Junktion, weil zwei Sätze unverbunden nebeneinander stehen und daher semantisch und syntaktisch desintegriert sind. Die inhaltliche Relation zwischen ihnen kann vom Hörer/Leser aufgrund ihrer Nachbarposition hergestellt werden. Im zweiten Satz (2) ist die Technik bereits weniger aggregativ (= Ebene II), denn die semantische Integration wird durch das sprachliche Element deshalb indiziert. Es fehlt aber noch die syntaktische Integration, die erst im dritten Beispielsatz (3) vorhanden ist (= Ebene IV): "Der eine Satz wird also zum Satzteil in einem zweiten Satz, er wird in den zweiten Satz integriert" (Raible 1992: 16). Beispiel (4), bei dem die Relation mit einer Präposition ausgedrückt ist und der Übergang vom verbalen in den nominalen Bereich bereits stattgefunden hat, stellt bei Raible die vorletzte integrativste Technik (= Ebene VII) dar. In folgender Übersicht seien die Eigenschaften der Dimension Junktion und ihrer beiden Pole nochmals dargestellt (Raible 1992: 30): Dimension Junktion Zu lösende Aufgabe: linear aufeinanderfolgende (Satz-)Einheiten werden zueinander in Relation gesetzt und dadurch zu größeren Einheiten zusammengeordnet.
Der Vorteil der Junktionsskala ist, dass sie ein gutes Tertium Comparationis für den Vergleich von Sprachen oder Sprachstufen darstellt. Dadurch lassen sich auch die Unterschiede zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Varietät einer Sprache erkennen: Die ersten Forschungsergebnisse, die im Rahmen der Beschäftigungen mit der Dimension Junktion, deren Konzeption bereits 1979 entstand, erbrachte Ralph Ludwig (vgl. Raible 1992: 197-198). Seine Freiburger Staatsexamensarbeit (1981) war den Ausdrucksweisen der Kausalität, Finalität und Konzessivität in mündlichen französischen Texten gewidmet, die anhand einer Skala zwischen den Polen der Aggregation und Integration in verschiedenen mündlichen Texttypen untersucht wurden. Bei den Texttypen handelte es sich um "familiäres Gespräch, Live-Diskussion im Fernsehen, Rundfunk-Interview mit einem Politiker und ein aufgrund von Notizen des Dozenten relativ frei gehaltener "cours magistral de littérature" über das altfranzösische Rolandslied" (ebd.: 198). Bei dieser Textdifferenzierung geht es bereits darum, was Peter Koch und Wulf Oesterreicher später (1985) angeregt von Ralph Ludwigs Ergebnissen (ebd.: 281) als konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit bezeichneten. Ludwigs Untersuchung ergab deutlich, dass je nach Texttyp stilistische Unterschiede festzustellen sind: So ist im familiären Gespräch, bei dem die semantischen Relationen implizit ausgedrückt werden, der aggregative Stil vorherrschend. Im Gegensatz dazu erreichen die Junktionstechniken in der Fernsehen-Diskussion oder im Politiker-Interview höhere Ebenen, weil sie einen höheren Grad an Geplantheit aufweisen. Ludwigs Ergebnisse haben somit entschieden zur Unterscheidung verholfen, die Peter Koch und Wulf Österreicher unter den Begriffen ‚Nähe’ und ‚Distanz’ (d. h. die Unterscheidung jeweils zwischen medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf der anderen Seite) popularisiert haben (vgl. Koch/Oesterreicher 1985). Es ist wichtig zu betonen, dass sich die beiden Konzeptionen - die Konzeption der Dimension Junktion mit ihren beiden Prinzipien Aggregation und Integration (Raible 1992) und die Konzeption der Unterscheidung zwischen ‚Nähe’ und ‚Distanz’ - einander beeinflusst und befruchtet haben. Diese Unterscheidung von ‚Nähe’ und ‚Distanz’ ist inzwischen eine wohl etablierte Varietätendimension, die in vielen linguistischen Disziplinen zur Anwendung kommt, weil sie sich als ein mehrdimensionales Konzept erwiesen hat: Aus diesen Überlegungen kann man nun leicht den Schluss ziehen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Nähe/Distanz-Dimension und der Junktion gibt, der in einer hohen Korrelation zwischen Nähe und Aggregation bzw. Distanz und Integration besteht. Das kann z. B. dadurch bestätigt werden, dass beim Übergang von oralem zu literalem Denken aggregative Junktionsstrukturen durch integrativere Merkmale ersetzt werden. Ein gutes Beispiel führt Wolfgang Raible an: Ausgehend von dieser Korrelation zwischen Nähe und Aggregation bzw. Distanz und Integration ist das Kasseler Junktionskorpus im Rahmen des DFG-Projekts "Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pilotprojekt zu einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen” (2007-2009) (Leiter: Vilmos Ágel und Mathilde Hennig) entstanden. Das DFG-Projekt stellt eine Vorbereitung für das Verfassen einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen dar, deren künftiger Autor Vilmos Ágel ist. In diesem Zusammenhang sind bereits mehrere Vorarbeiten (vgl. Publikationen o.J.) veröffentlicht worden. Das konzeptionelle Leitprinzip der geplanten neuhochdeutschen Grammatik sei die Fokussierung auf die Nähe/Distanz-Dimension, d. h. auf die Untersuchung grammatischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen konzeptionell mündlichen und konzeptionell schriftlichen Texten (Ágel/Hennig 2007: 186). Vilmos Ágel ist der Überzeugung, dass der besondere Status des jüngeren Neuhochdeutsch darauf zurückzuführen sei, dass dies "die Zeit der intensivsten Verschriftung (mediale Achse von Oralität/Literalität) und Verschriftlichung (konzeptionelle Achse von Oralität/Literalität) ist, was zur Herausbildung der Schriftsprache bzw. der Standardsprache führt." (Ágel o.J.: 5). Da jedoch in den älteren Sprachstufen des Deutschen aufgrund der Überlieferungssituation nur schriftlich fixierte Texte zur Verfügung stehen (weshalb Sprachgeschichte notwendigerweise die Geschichte der geschriebenen Sprache ist), könne der methodische Zugriff auf historische Texte "nur aus einer theoretischen Modellierung der Nähe/Distanz-Dimension hergeleitet werden" (Ágel, Hennig 2006: XI). Deshalb haben Vilmos Ágel und Mathilde Hennig einen Erweiterungsvorschlag zum Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher erarbeitet, der im Sammelband "Grammatik aus Nähe und Distanz" (2006) ausführlich beschrieben und erörtert ist. Der Erweiterungsvorschlag bietet eine Operationalisierung grammatischer Nähe- und Distanzmerkmale, mit deren Hilfe die Verortung von Texten auf dem Kontinuum zwischen Nähe und Distanz möglich wird. Im Rahmen des bereits erwähnten DFG-Projekts wurde - analog zur Operationalisierung des Nähe-Distanz-Modells - eine Operationalisierung des Junktionsmodells von Ágel vorgeschlagen. Vilmos Ágel hat die oben vorgestellte Junktionstheorie von Raible, die jedoch von den romanischen Sprachen ausgeht, auf die strukturellen Besonderheiten der deutschen Sprache angepasst, sodass sie sowohl auf gegenwärtige als auch auf historische Texte anwendbar wird. Theoretisch hat sich Ágel vorwiegend an die Ausführungen aus dem "Handbuch der deutschen Konnektoren" (HdK 2003) angelehnt, die er ebenfalls um eigene Überlegungen erweiterte. Daraus resultierte ein Dreistufenmodell, das aus Junktionsklassen (Koordination, Subordination, Inkorporation, Unifikation), Junktionsgrundtechniken und Junktionstechniken besteht, die auf einer Skala zwischen den Polen Aggegation und Integration darzustellen sind. Die Theorie und Operationalisierung des Junktionsmodells von Ágel sind in zwei Veröffentlichungen vorgestellt (vgl. Ágel/Diegelmann 2010 und Ágel 2010). Dabei setzt sich Ágel ausschließlich mit der expliziten Junktion auseinander, d. h. mit denjenigen Verknüpfungen von Sachverhaltsdarstellungen, die "durch eine reguläre Realisierung von Sprachzeichen erfolgen" (Ágel/Diegelmann 2010: 346). Mit Hilfe des Junktionsmodells von Ágel ist es nun möglich, prozentuale Aggregativitäts- bzw. Integrativitätswerte zu ermitteln, die die Vergleichbarkeit verschiedenster Texte aus Geschichte und Gegenwart anhand eines transparenten Punktgebungsverfahrens gewährleisten. Im Unterschied zu Wolfgang Raible, der mit insgesamt 8 Junktionstechniken operiert, rechnet Ágel im Deutschen mit nur 4 Junktionsklassen: (1) Koordination, (2) Subordination, (3) Inkorporation und (4) Unifikation (letztere fehlt bei Raible). Dagegen wird die Juxtaposition (die Aneinanderreihung ohne Junktor), die bei Raible die erste, d. h. aggregativste, Technik darstellt, nicht berücksichtigt, da sie keine explizite Junktionstechnik ist.
Abbildung 1: Explizite Junktion (Ágel 2010: 906)
4. Junktionsuntersuchung des Simplicissimus-Romans Mit Hilfe des hier kurz vorgestellten Junktionsmodells von Ágel wollen wir den Simplicissimus-Roman (1668) von Hans Jacob von Grimmelshausen mit seiner Übersetzung (Grimmelshausen 2009) ins Gegenwartsdeutsche durch Reinhard Kaiser (2009) vergleichen. Als Textgrundlage der geplanten Untersuchung sollen ausgewählte Kapitel des Romans dienen, wobei sich der Gesamtumfang jedes Korpustextes in seiner Länge von 12 000 Wortformen an der Standardlänge der Texte des frühneuhochdeutschen Bonner Korpus orientiert. Es soll überprüft werden, ob zwischen den beiden Texten möglicherweise ein Unterschied hinsichtlich des Junktionsgrades festzustellen ist.Warum stellt nun gerade Grimmelshausens Simplicissimus eine geeignete Textgrundlage für die Untersuchung dar? Dafür lassen sich ein paar gute Gründe nennen:
Diese Überlegungen legen die Hypothese nahe, dass Grimmelshausens Originalroman vom 17. Jh. aggregativer sein dürfte als seine Übersetzung ins Gegenwartsdeutsche. Angesichts der Tatsache, dass sich als geeignete Textsorten für die Erstellung eines Nähekorpus für die geplante Grammatik des Neuhochdeutschen "insbesondere Privatbriefe, Tagebücher und Lebensberichte einfacher Leute erwiesen [haben]" (vgl. Korpus o.J.), ist bei einem literarischen Text, d. h. bei einem schriftlich konzipierten und somit sorgfältig geplanten Text, nicht damit zu rechnen, dass er stark aggregativ - und das heißt auch stark nähesprachlich - sein wird. Uns geht es vielmehr darum, am Beispiel des Phänomens "explizite Junktion" die These zu überprüfen, ob ein eher distanzsprachlicher Text aus dem 17. Jh. höhere Aggregativitätswerte aufweist als ein Text der Gegenwart, was Mathilde Hennig bereits an den Phänomenbereichen ‚Serialisierung im Verbalkomplex’ und ‚Aggregative Koordination’ nachweisen konnte7. Dies wäre darauf zurückzuführen, dass im Zuge der zunehmenden Verschriftlichung die Aggregationsmerkmale von Integrationsmerkmalen verdrängt werden, weshalb in älteren Sprachstufen einer verschriftlichten Sprache generell mit mehr Aggregationsmerkmalen zu rechnen ist: Wenn wir vom letzten Satz des Zitats ausgehen, so ist im Falle der expliziten Junktion festzustellen, dass einem Sprecher/Schreiber heute (wie auch früher) mehrere aggregative und integrative Junktionstechniken zur Verfügung stehen, die sich als stilistische Alternativen nebeneinander finden. Daher wird es auch interessant sein, festzustellen, welche Varianten in der Übersetzung des Simplicissimus-Romans gegenüber der Vorlage gewählt wurden. Schließlich wird es anhand der Junktionsuntersuchung möglich sein, anhand des Phänomenbereichs "explizite Junktion" die Textprofile der beiden Korpusquellen zu vergleichen.
5. Fazit Der vorliegende Artikel stellt einen Teil einer größeren Untersuchung über die explizite Junktion im Simplicissimus-Roman von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen dar. Оhne dass hier auf die Ergebnisse der empirischen Analyse eingegangen werden konnte, haben wir zu zeigen versucht, warum die Junktionsuntersuchung ein lohnenswerter Forschungsgegenstand ist. Ausgangspunkt der Überlegungen stellten die für die Arbeit zentralen Begriffe Aggregation und Integration dar, deren theoretische Erörterung anhand eines Beispieltyps aus dem Bereich der Negation erfolgte. Im Anschluss daran folgte eine kurze Vorstellung der Junktionstheorie von Wolfgang Raible mit seinem Verständnis von den Prinzipien Aggregation und Integration, worauf sich das Junktionsmodell von Vilmos Ágel stützt. Für die Zwecke seines Modells hat Ágel Raibles Junktionstheorie an die Besonderheiten der deutschen Sprache angepasst und somit deren praktische Anwendung auf gegenwärtige und historische Texte ermöglicht. Abschließend wurden die Gründe angeführt, warum der Simplicissimus-Roman eine geeignete Textgrundlage für die empirische Junktionsuntersuchung liefert.
ANMERKUNGEN 1. Unter "synchronizistischem Erbe" versteht Ágel "[G]egenwartsbezogene Theorien, jedoch gegenwartsbezogene wie historische grammatische Beschreibungen." (Ágel 2003: 4). [back] 2. Wolfgang Raible weist darauf hin, dass auch andere den Begriff Integration in ähnlicher Bedeutung benutzen, z. B. Wallace L. Chafe (1982, 1985), der jedoch statt Aggregation von ‚Fragmentation’ spricht, Christian Lehmann (1988), der den Gegenbegriff ‚Autonomie’ wählt, oder Talmy Givón (1990), vgl. Raible (1992: 20). [back] 3. Eine sehr kurze Beschreibung der Junktionsdimension mit ihren Polen Aggregation und Integration findet sich in Raible (2001). [back] 4. Boris Paraschkewow, der Übersetzer des Simplicissimus-Romans ins Bulgarische, weist auch darauf hin, dass die deutsche Literatur des 17. Jhs. "grundsätzlich in der Originalfassung nachgedruckt und gelesen wird." (Paraschkewow 1993: 733). [back] 5. "Auf Grund des historischen Primats der gesprochenen Sprache und des langwierigen Prozesses von Verschriftung und Verschriftlichung sind ältere Sprachstufen prinzipiell nähesprachlicher als gegenwärtige Einzelsprachen." (Hennig o.J.: 5). [back] 6. Die Fortsetzung des Zitats lautet: "Ab dem 18. Jh. kommen sie zunehmend nur noch in Texten vor, die dialektal geprägt sind, von einfachen Leuten verfasst wurden und/oder nähesprachlich sind, d. h. Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen." (Ágel 2010a: 11). [back] 7. Vgl. Hennigs Schluss: "Dieses Ergebnis bestätigt die Einschätzung [...], dass auch distanzsprachliche Texte in wohletablierten Schriftkulturen Nähemerkmale enthalten können, wenn die historischen Voraussetzungen dies begünstigen." (Hennig 2009: 205). [back]
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