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EIN DACH AUS TANNENZAPFEN

Dimil Stoilov

web

Weiße Weihnacht wiederSein Blick folgte dem letzten Zugwaggon so lange, bis er nur noch ein Punkt in der Ferne war. An anderen Tagen ärgerte er sich mehr. Heute hinderten ihn drei Frauen daran, dem verpassten Zug hinterher zu fluchen.

Die erste davon war seine eigene Ehefrau. Vor sechs Jahren hatten sie den weisen Worten der Standesbeamtin über das eheliche Glück gelauscht. Die höhere Intonation innerhalb der gemeinsamen Kommunikation trat später auf, ohne Rituale oder besondere Vorankündigungen. Ein schmutziger Schuh oder ein Frühstückskrümel auf dem Boden, eine verschobene Tischdecke oder eine Pfütze unter dem nassen Regenschirm waren bloß unterschiedliche Bezeichnungen für ein und denselben Anfang.

Seit etwa einer Woche vermutete seine Frau, dass sie schwanger sei. Sie hatte noch nicht den notwendigen Test durchgeführt, um die Zweifel zu bestätigen oder zu beseitigen, aber er bekam mit, dass man das zweite Kind planen müsse und „jetzt“ nicht der richtige Zeitpunkt dafür sei. Mehr noch: dass er grausam und verantwortungslos sei und sich nur für sein idiotisches Vergnügen interessiere. Für das Tierische in ihm... Nachdem er die Beschuldigungen zum sechsten Mal gehört hatte, ließ er sich von der Redaktion auf Geschäftsreise schicken.

Der zweiten Frau wegen las er nun schon seit einer Woche Bücher über das Leben im Jenseits, über Propheten und Medien, die mit außerirdischen Zivilisationen Kontakt aufnehmen konnten. Den halben Morgen über war er durch die schmalen, kopfsteingepflasterten Gassen auf der Suche nach ihrem Haus geirrt. Sie besaß übersinnliche Kräfte und konnte in die Zukunft sehen. In einem stundenlangen Gespräch hatte er versucht, etwas mehr über die dunklen Weissagungen für das Land und die Regierung aus ihr herauszulocken, doch sie wand sich mit allgemeinen Aussagen und schwammigen Gestalten heraus. Das sensationslose Material über ein entheroisiertes Medium würde dem Chefredakteur nicht munden, und so war Andrej nicht nur mit der Situation, sondern auch mit sich selbst unzufrieden.

Er schlich in die verzweigte Unterführung vor dem Bahnhof - das Licht an den Ausgängen verleitete die Menschen zu schnelleren Schritten. Er betrat die breite Straße. Alte Kastanienbäume verhakten ihre kahlen Äste ineinander, ein kalter Wind schob vergilbtes Laub über das Pflaster und schaffte Platz für die ersten Schneeflocken. Andrej griff nach seinem Notizbuch in der warmen Innentasche seines Sakkos.

Die dritte Frau war Raia. Sie hatte er während einer Literaturlesung in einem Dorf kennengelernt. Dessen Namen hatte er vergessen. Nur der Abend in dem dreistöckigen Bauernhaus war ihm in Erinnerung geblieben. Die gehäuften Holzscheite im Kamin versprühten großzügig Funken. Die Schatten der Flammen zuckten auf Raias Gesicht und veränderten es auf eine geheimnisvolle Weise, und die Lieder und ihre tiefe Stimme brachten sein Gemüt derart durcheinander, dass er es ihr gestand. In seinem Zimmer dann elektrisierte ihn ihr Haar, verbargen ihre Lippen nicht den Durst, erschauerte ihr Körper vor Zärtlichkeit.

Als das Morgengrauen durch die Fenster lugte, hatte sie ihm fast alles über ihr Dasein erzählt. Eine Dichterin. Sie arbeite in einem Kulturhaus. Geschieden mit zwei Kindern. Ihr Mann leide an pathologischer Gutmütigkeit. In seiner Nähe fühle sie sich wie eine Verbrecherin wegen ihrer Leichtsinnigkeit und Explosivität. Sie sei undankbar und verwöhnt, und er - lammfromm. Der Hass sei so weit gegangen, dass sie nicht mal mehr seine Zahnbürste neben ihrer eigenen hatte ertragen können. Alles habe er ihr vergeben. Selbst das Scheidungsurteil sei zu seinen Lasten gefällt worden.

An der gesamten Erzählung beeindruckte ihn die verhasste Zahnbürste besonders. Lange Zeit danach, wenn er zu Hause zum Becher über dem Waschbecken griff, fragte er sich, ob sich nicht auch dort Missgunst angehäuft hatte.

Raia und er schrieben sich drei-vier Briefe. Er brachte einige ihrer Gedichte in der Zeitung unter. Das war nicht schwer, denn sie strahlten Geschick und Routine aus, obwohl sie nicht mit Qualität glänzten.

Er klappte das Notizbuch zu und fragte einen älteren Herrn nach der Adresse. Die Ausführungen versicherten ihm, dass er an einen Rentner geraten war.

Kaum hatte er seinen Fuß in den überfüllten Bus gesetzt, schlug die Tür hinter seinem Rücken zu. Über ihm balancierte eine Frau einen Eierkarton mit einem Dutzend Eiern. Er wagte es nicht sich vorzustellen, wie eines davon zerbrechen könnte. Im Bus roch es nach Schweiß, Abgasen und müden Parfums. Die Frau mit den Eiern stieg an der ersten Haltestelle aus und Andrej fühlte sich besser. Auf der beschlagenen Scheibe sah er sein Gesicht, verzerrt und verbogen durch die Bewegung. Der Bus wurde leerer. Bis zur letzten Station waren fünf übriggeblieben.

Die Schritte der anderen vier führten nach Haus. Das war Andrejs Eindruck, denn es kam ihm unnatürlich vor, dass sie es bloß wegen der Kälte so eilig hatten. Sie wurden von Frauen und Kindern erwartet, von einigen Quadratmetern voll Wärme und einem schützenden Dach. Erleuchtete Fenster zogen sie an, menschliche Nähe wartete auf sie.

Die Schneeflocken versanken in den Serpentinen der asphaltierten Alleen. Hinter den Wohnblocks am Stadtrand schimmerten weiße Felder. Statt einer Klingel hingen zwei Drähte rechts neben der Tür. Vorsichtig hielt Andrej sie aneinander. Ein Funke sprang über und ein leises Läuten durchbrach die Stille im Treppenhaus. Er wartete kurz und vernetzte erneut die beiden Drähte. Jetzt war das Klingeln lauter und länger. Beim dritten Mal erinnerte es ihn an den Laut einer Gitarre, an eine weibliche Stimme...

Die Tür öffnete sich. Das Flurlicht erlosch und im gelberleuchteten Türausschnitt erschien - wie im Lichtkegel eines Projektors - ein junger Mann. Die Manschetten seines Hemdes waren hochgekrempelt, sein Schnäuzer machte ihn etwas älter, und das Grübchen am Kinn verriet Gutmütigkeit.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

Andrej zuckte überrascht zusammen.

„Raia Savova“, brachte er heraus, holte tief Luft und fuhr dann fort: „Wohnt hier Raia Savova?“

Der Schnäuzer breitete sich zu einem Lächeln aus.

„Ja. Kommen Sie rein. Raia hat den Kindern aufgetragen, falls jemand nach ihr fragen sollte, dann solle er kurz warten. Sie ist einkaufen, sie kommt bald wieder.“

Am liebsten hätte er gesagt, dass er ein anderes Mal wiederkommen würde, dass er es eilig hätte und sich für die freundliche Einladung bedanke. Trotz alledem durchquerte er den mit Holz verkleideten Flur. Er gab seinen Mantel ab und sah zu, wie er an den aus braunen Holzscheiben bestehenden Kleiderhaken aufgehängt wurde. Er betrachtete den Mosaikboden jenseits des Teppichläufers - die weißen Steinchen waren in der Überzahl im Vergleich zu den schwarzen, wie überall. Er bemühte sich um ein selbstsicheres Auftreten, doch ihm war bewusst, dass seine Verlegenheit nicht verborgen blieb.

„Papa, Papa, der Kleber trocknet an.“ Zwei zarte Stimmchen überschlugen sich hinter der gläsernen Wohnzimmertür. Jetzt wurde wenigstens klar, wer der Mann mit dem Schnäuzer war.

„Ich komme, meine Lieben. Wir basteln ein Wahnsinnshäuschen... Setzen Sie sich in den Sessel. Ich weiß nicht, was Raia im Kühlschrank hat, um Ihnen etwas anzubieten. Wenn sie kommt...“

„Ich bitte Sie, ich hätte Sie gar nicht stören sollen“, sagte Andrej und begriff selbst, wie sinnlos aufrichtig seine Worte waren.

Die Kinder würdigten ihn nur eines flüchtigen Blickes. Auf dem niedrigen Tisch lagen zwei weiße Pappen. Die größere davon war haufenweise mit Steinchen, Tannenzapfen, Kiefer- und Tannenzweigen bedeckt. In einem Einmachgläschen schimmerte Flüssigkleber, daran lehnte eine Zahnbürste. Solch ein unschuldiger Gegenstand konnte laut Raia Hass auslösen... Auf der kleinen Pappe erhob sich ein Häuschen. Die Wände waren mit Tannennadeln beklebt, und davor wand sich ein Pfad aus Steinchen durch eine Wiese aus Moos.

„Papa, bleibt denn das Dach so unbedeckt?“, fragte der Junge. Er war fast ein Kopf kleiner als das Mädchen.

„Ein Dach wird es auch geben. Schau mal, dort drüben sind die Ziegel. Jetzt reich mir noch ein langes Hölzchen.“

„So eins?“

„Genau so eins...“

„Und wie befestigen wir die Tannenzapfenschuppen?“

„Schluss jetzt mit diesem Dach“, meldete sich das Mädchen. „Du wirst es schon sehen. Papa, können wir drinnen auch ein Lämpchen aufhängen? Damit es nachts leuchtet, sonst ist es gruselig!“

„Das geht, Nina. Alles geht. Wir nehmen Ziegel, damit es nicht reinregnet, und Beleuchtung, damit es hell ist. Wir machen alles so wie es sich gehört...“

Der Mann arbeitete mit offensichtlichem Vergnügen. Seine Hände griffen mal nach dem Gläschen mit dem Kleber und der Bürste, mal nach den Häufchen auf der Pappe, mal nach dem Häuschen. Die Kinder schlichen fröhlich und aufgeregt um ihn herum.

Die fremde Freude betrübte ihn. Was hatte er hier verloren? Er stellte sich die drei gemeinsam mit Raia vor, wie sie händehaltend um den Weihnachtsbaum herum gehen. Sie gehen herum und lachen, und ihre Hände bilden einen Kreis. Er sammelte etwas Mut und erhob sich aus dem Sessel, doch im selben Moment hörte er ein Geräusch im Flur.

In der Tür erschien Raia.

„Sieh einer an, was für eine Überraschung! Wir fühlen uns geehrt. Dann danken wir den Fahrtwinden und der... Vorsehung.“

Die glühenden Ausrufe beruhigten Andrej etwas. Das Gesicht der Frau war gerötet von der Kälte, und diesmal hatte es nichts Geheimnisvolles in sich. Er richtete sich auf.

„Ich wollte mich nur melden...“

„Dass du das wirklich gemacht hast! Jetzt setz dich doch.“

Raia drückte ihn an seinen Schultern herunter und flüsterte: „Ich will, dass du bleibst.“ Der Mann gegenüber beklebte weiterhin das Häuschen. Die Kinder reichten ihm Holzspäne. Der Wunsch der Frau kam ihm mehr als verrückt vor.

„Ich muss gehen...“

„Du kannst doch nicht gehen, ohne angekommen zu sein! Da kommt ein ganzer Redakteur zu mir nach Hause und ich soll ihn einfach ziehen lassen - das geht nicht! Was willst du trinken: Wodka, Gin, Wein?“

„Danke. Ich habe es tatsächlich eilig. Meine Kollegen warten auf mich. Sie sind alle so empfindlich und werden ewig beleidigt sein...“

„Empfindlich oder nicht, das ist mir egal. Was trinkst du?“

„Gar nichts. Lass es mich doch erklären. Wir sind mit dem ganzen Team auf Geschäftsreise. Ich wollte nur die Gelegenheit nutzen und mich bei dir melden. In der Redaktion haben wir schon so lange nichts mehr von dir gehört.“

„Das stimmt. Aber ich weiß immer noch nicht, was ich dir anbieten kann.“

„Wenn es schnell geht, dann einen Kaffee.“

„Ja, jetzt gleich...“, sagte Raia und hetzte weiterhin geschäftig durchs Wohnzimmer.

Für Andrej dauerte die Kaffeezubereitung quälend lange. Es kam ihm vor, als sei die Stromversorgung zu schwach oder als seien die Sicherungen durchgebrannt. Heimlich und offensichtlich schaute er auf seine Uhr. Das Gespräch sprang von einem Thema zum nächsten: Bekannte, Gedichte, Kinder, Krankheiten. Der erste Schluck verbrannte seine Zunge, doch er nippte weiterhin mit tragischer Tapferkeit an der dampfenden Flüssigkeit. Er gab Raia letzte Anweisungen: Sie solle regelmäßig schreiben und sich für eine Gedichtsammlung bereitmachen. Zaghaft nickte sie ihm zu, und in ihren Augen vernahm er Zeichen, die er lieber nicht deutete.

Sie begleiteten ihn hinaus bis vor die Haustür. Er reichte dem Mann mit dem Schnäuzer die Hand, dann drückte er Raias Handfläche - die Wärme verbrannte ihn. Er kehrte ihnen den Rücken zu und war erleichtert.

Eine dünne Schneedecke hatte sich über die Erde gelegt. Nach etwa zwanzig Schritten schaute er sich um. Nur seine Fußstapfen führten verkehrtherum zum Wohnblock zurück. Zuversichtlich lief er weiter. Er wusste, dass er den nächsten Zug nach Sofia kriegen würde. Und er wusste noch etwas. Seine Frau würde auf ihn warten. Nach Geschäftsreisen war sie immer zärtlich. Er könnte ihr sagen, dass ein zweites Kind vielleicht doch nicht so schlecht wäre.

Während er die breite Straße entlang schritt, kam ihm alles hell und glänzend unter der Schneeschicht vor. Die Schneeflocken prickelten warm auf seinen Händen.

Eine halbe Stunde später lief der Mann mit dem Schnäuzer in seinen noch nicht zugeschneiten Fußstapfen in Richtung Bahnhof.

 

 

© Dimil Stoilov
© Dessislava Georgieva, übersetzung dem Bulgarischen
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© E-magazine LiterNet, 13.07.2010, № 7 (128)

 Weiße Weihnacht wieder. Leipzig: Literaturpodium, 2010.